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Gemeinschaft

Wegbereiter*innen: 1989/90: Umbruch auch in der Arbeitswelt

Die Wende in der DDR und die Herstellung der deutschen Einheit 1989/90 waren eines der einschneidendsten Ereignisse auch in der Geschichte unserer Gewerkschaft. Damals wurden Wege bereitet, die bis in die Gegenwart führen.   

9. Oktober 1989: gerade eben hat die DDR halbwegs glücklich ihren 40. Jahrestag gefeiert. Doch der Unmut in der Bevölkerung ist nicht mehr unter dem Deckel zu halten. 70.000 Menschen ziehen an diesem Montagabend durch Leipzig, fordern Demokratie und Reisefreiheit. Mit dabei der Eisenbahner Eberhard Schneider. „Es wurde immer gefragt: Wie habt ihr euch gefühlt, habt ihr Angst gehabt? Ja, hatten wir, aber wir haben nicht darüber gesprochen“, erinnert sich der ehemalige Reichsbahner und spätere Gewerkschaftssekretär. „Es war eine ruhige, fast feierliche Stimmung, ein Lichtermeer, das war so etwas Bewegendes, das möchte ich nicht missen.“ An diesem Montagabend entscheidet sich die Geschichte der „Wende“ in der DDR. „Wir haben später von einem Kollegen erfahren, der bei der Kampfgruppe war, und der den Leipziger Hauptbahnhof schützen sollte, falls es einen Sturm auf den Bahnhof geben sollte. Das hatte niemand vor, aber wenn es so gekommen wäre, hätten wir uns vielleicht gegenübergestanden.“

Die Wende in der DDR krempelte auch die deutsche Eisenbahnwelt um. Binnen weniger Wochen stampften Eisenbahnerinnen und Eisenbahner eine demokratische Gewerkschaftsbewegung aus dem Boden. Im Februar 1990 wurde die Gewerkschaft der Eisenbahner (GdE) gegründet. Mit dabei war Peter Rothe. Ende 1989 noch als Delegierter aus dem Eisenbahn-Fährkomplex Mukran für den FGDB Kongress gewählt, gehörte er gerade mal drei Monate später dem Vorstand der neuen GdE an. „Da standen wir nun als neuer Vorstand, alle ohne Erfahrung, was die Führung einer Gewerkschaft anbelangt, vor einem Berg schier unlösbarer Probleme.“ Kolleginnen und Kollegen aus dem Westen unterstützten, wo sie konnten. Das war, so Peter Rothe, „eine Hilfe, die besonders in Bezug auf die Programmatik und die Erstellung des Entwurfs einer rechtssicheren Satzung sehr wertvoll war.“´


Tarifverhandlungen der GdE. In der Mitte: Peter Rothe

Auf einmal mittendrin
Rudi Schäfer, der damals Vorsitzender der GdED war, würdigte diese Kooperation später als ein gegenseitiges Geben und Nehmen. „Hier war sehr wohl eine intensive Wechselwirkung vorhanden“, sagte er auf dem Gewerkschaftstag im Oktober 1990, auf dem die Vereinigung von GdED und GdE vollzogen wurde. „In einer geschichtlich einmaligen Situation erhielt die GdED unschätzbare Impulse, die für die künftige Arbeit unter geänderten und zweifellos verbesserten organisatorischen Bedingungen von höchstem Wert sind.“

Zu den westdeutschen Gewerkschaftern, die den „Aufbau Ost“ unterstützten, gehörte auch ein junger Mann aus Frankfurt, Alexander Kirchner. Der damalige Personalrat wurde vom Hauptvorstand der GdED angesprochen, ob er in der DDR beim Aufbau von Personalvertretungsstrukturen aushelfen könne. „In rasanter Folge sind viele Themen auf die Kollegen im Osten eingeprasselt, die Schließung von Betrieben, von Dienststellen. Was wir im Bereich der Bundesbahn über 20, 30 Jahre erlebt hatten, wurde hier innerhalb weniger Jahre vollzogen.“ Zwei Jahre lang war Alexander in den neuen Bundesländern unterwegs. „Mir hat das viel gegeben. Ich habe in dieser Zeit die damalige Deutsche Reichsbahn und die damalige DDR kennengelernt. Auf einmal war ich mittendrin.“


Rudi Schäfer

Demokratie auch im Arbeitsleben
Nur wenige Wochen nach der GdE, am 28. April 1990, wurde eine zweite Gewerkschaft im Eisenbahnbereich gegründet, die GDBA Ost. Der Arbeitskreis „EVG Geschichte“ würdigt diese als die „zweite autonome und basisdemokratische Gewerkschaftsgründung von Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern in der DDR.“ Ein Redner betonte: „Unsere noch junge Demokratie kann nicht nur auf den politischen Raum beschränkt bleiben. Auch im Arbeitsleben müssen in der DDR demokratische Strukturen verwirklicht werden.“ Die Anlehnung an die GDBA wurde bewusst gewählt. Die Teilnehmer der Gründungskonferenz fühlten sich dem Beamtenbund nahe und unterstützen dessen Aufbauarbeit in den gerade gegründeten neuen Ländern auf dem Gebiet der DDR. Zum Vorsitzenden wurde ein junger Fahrdienstleiter aus Cottbus gewählt, Klaus-Dieter Hommel.
     
Dass die neuen Eisenbahnergewerkschaften es mit der Interessenvertretung ernst meinten, zeigten sie gleich im Herbst 1990: Drei Tage lang wurde die Deutsche Reichsbahn in Gänze bestreikt. Ergebnis: der Abbau von 125.000 Stellen wurde verhindert, die Tarifverträge der Bundesbahn wurden schrittweise auch für die Reichsbahn übernommen.  


Die Bahnreform bekommt einen „gewerkschaftlichen Stempel“ 
Wenige Jahre später standen die Gewerkschaften vor einer neuen, historischen, Herausforderung: der Bahnreform. „Niemand – auch nicht innerhalb der GdED -bezweifelte, dass sich die beiden deutschen Bahnen in einer Existenzkrise befanden“, so der GdED-Vorsitzende Rudi Schäfer in der Rückschau. „Offen wurde von einem Haushaltsrisiko gesprochen.“  In dieser Situation standen die Gewerkschaften vor der Frage: Ablehnung der Bahnreform – eine Position, die in der Mitgliedschaft und bei den Funktionären leicht vermittelbar gewesen wäre – oder „Mitmachen und Gestalten“? Sich „auf schlichtes Nein-Sagen zu beschränken, wäre mit dem Verlust jeder Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeit verbunden gewesen“, so Rudi Schäfer. Hauptvorstand und Beirat der GDED entschieden sich deshalb für den schwereren Weg…Sie akzeptierten, dass einschneidende Veränderungen nicht verhindert werden konnten und wollten deshalb versuchen, diese Veränderungen mitzugestalten, ihnen den „gewerkschaftlichen Stempel“ aufzudrücken.“

Ein Weg, auf dem viel erreicht wurde:

  • Im Grundgesetz (Art. 87e) wird die „Eisenbahnverwaltung“ als Aufgabe von Bund und Ländern festgelegt und eine mögliche Privatisierung der Infrastruktur verhindert. 
  • Alle Beschäftigten werden übernommen; der Grundstein für ein Beschäftigungsbündnis wird gelegt. 
  • 16 Tarifverträge sichern die Beschäftigten ab, die Rechtsstellung der Beamtinnen und Beamten bei der Bahn wird gewahrt. 

Waren wirklich drei Gewerkschaften notwendig dafür? Die Pluralität von Gewerkschaften, so Klaus-Dieter Hommel in der Rückschau, wurde schon 1990 von vielen Kolleginnen und Kollegen hinterfragt. „Es hat bis 2010 gedauert, diesen Zustand zumindest für zwei Gewerkschaften zu beenden. Die Entwicklung der EVG zeigt heute die Richtigkeit dieses Weges.“    

Quellen: 
Interview mit Eberhard Schneider, November 2019, in der imtakt
Der ständige Kampf. Dokumentation der EVG, 2018
Beiträge von Rudi Schäfer und Peter Rothe in dem Buch Gewerkschaft bei der Bahn 1945-2008 
Zeitzeugen-Interview mit Alexander Kirchner, www.evg-online.org