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Interview Unterwegs

Arbeiten, wo andere Urlaub machen: „Wir sind auch Entertainer“

Sie ist eine der Besonderheiten auf der Nordsee-Insel Wangerooge: Eine kleine, schmalspurige Bahnverbindung, die es seit knapp 126 Jahren gibt. Betreiber der insgesamt sechs Kilometer langen Strecke ist die DB Fernverkehr AG. Hier arbeiten aktuell zehn männliche Kollegen und eine Kollegin, die dort weit mehr als nur Eisenbahner:innen sind.

Wir machen hier alles“, erzählt Carsten Chuchra, der mit seinen Kollegen Vieles zugleich verkörpert: Lokführer, Gepäckverlader, Ticketkontolleure, Rangierer, Hafenarbeiter und sogar Kran- und Staplerfahrer. „Außer der Fahrdienstleiterin sind wir ausnahmslos Männer.“ Die Arbeit kann bisweilen anstrengend sein, bis hin zum Transportieren und Verladen des Mülls, der auf der Insel anfällt und aufs Festland verfrachtet werden muss. Es ist vor allem in der Hauptsaison herausfordernd, aber dennoch „absolut meine Welt“, so Carsten.

Die Männer bedienen den Inselverkehr; bestehend aus zwei Personenzügen und einem Güterzug. Seit 1897 ist die Inselbahn das Hauptverkehrsmittel der autofreien Insel für die mittlerweile jährlich rund 200 000 Urlaubs- und Tagesgäste. Um deren Anliegen kümmert sich im denkmalgeschützten Bahnhof Harlesiel hingebungsvoll das Team von DB Vertrieb. Die Kolleg:innen beantworten geduldig die immer wieder gleichen Fragen rund um An- und Abreise oder zum Gepäcktransport auf der Insel.


Überfahrt nur mit Handgepäck erlaubt
Urlauber:innen dürfen nur ein Handgepäck mit auf die Fähre vom oder zum Festland mitnehmen. Wer länger bleibt, muss vorher Koffer oder große Taschen zum Verladen aufgeben. In passende Container umgelagert, kommen die verstauten Gepäckstücke auf zwei Flachwagen. Mit diesen und fünf weiteren Personenwagen pendelt das kleine, rote und gut erhaltene Dieselaggregat die Fahrgäste über Salzwiesen und durch Brutgebiete zwischen Westanleger (Fährhafen) und dem Wangerooger Bahnhof. Eine Strecke von vier Kilometern bewältigt die oft mit Jim Knopfs „Emma“ verglichene Kleinbahn mit maximal 20 km/h innerhalb von ca. 15 Minuten. Trotz ihres Arbeitspensums schaffen es die Kollegen, immer wieder, auf den kurzen Zugfahrten vom oder zum Hafen, für gute Laune bei den Mitfahrenden zu sorgen. Routiniert, aber norddeutsch-herzlich bringen sie Urlauber:innen zum Schmunzeln oder Lachen. „Wir sind hier auch Entertainer“, so Carsten.

Und sie fährt und fährt
Während des Zweiten Weltkrieges hat auch das kleine Nordsee-Eiland sehr gelitten. Die zur Luftabwehr vor dem Festland genutzte Abwehrbastion wurde in den letzten Kriegswochen von den Alliierten zerbombt. Über die Jahre wurde es nach und nach wieder möglich, vom Fähranleger im Süden der Insel die zwei anderen Stationen mit der „Zuckelbahn“ zu erreichen. Aktuell betreibt die DB Fernverkehr AG die Schifahrt und Inselbahn Wangerooge (SIW).

„Unsere zwei Dieselloks sind Baujahr 1999“, so Chuchra. „Also noch relativ modern“, lacht er. Zwei weitere, schmalspurige Ersatzloks dienen als Alternativen. Sie kamen 1989 noch aus DDR-Bergbaubeständen. Die Personenwagen, Baujahr 1992, aus dem DB Werk Wittenberge verkörpern das nostalgische Image einer Inselbahn. „Natürlich setzen Alter und Witterung der Technik zu“, so Carsten. Alles, was vor Ort reparierbar sei, werde von den zwei erfahrenen Kollegen in der inseleigenen Werkstatt abgearbeitet.


Fahrpläne richten sich nach der Tide
Wenn mit den wärmeren Monaten der Besucherandrang zunimmt, wird jede Hand gebraucht. „Wir bräuchten für diese Zeiten stets zusätzliche Kolleg:innen“, erzählt Betriebsleiter Michael Fleddermann. Noch vor wenigen Jahren habe es regelmäßig Bewerbungen zur Aushilfe während der Sommerzeit gegeben. „Jetzt kaum noch“. Gründe seien dafür der Personalmangel im jeweiligen Heimatbetrieb, aber auch die hohen Lebenshaltungskosten auf der Insel. Und: Das Leben auf einer Insel ist nicht vergleichbar mit dem auf dem Festland. „Gehst Du auf eine Insel, gehst du einiges ein“, kommentiert Chuchra. Auf diese Erfahrung habe er sich fest eingestellt, als er 2018 auf die Insel gezogen ist, um hier zu arbeiten. Ihn und seine Frau habe es immer ans Meer gezogen. Als sich die Möglichkeit durch eine Ausschreibung bot, verkauften sie „Haus und Hof“ und zogen von Hameln auf die Insel. Bereut hat er diesen Entschluss nach immerhin 30 Jahren als Lokführer auf dem Festland nie.

Wenn Urlauber:innen und Anwohner:innen mit der Fähre übersetzen müssen, diktiert quasi die Natur die Fahrpläne. Grund dafür ist die Tide, also der gezeitenbedingte Wasserstand. So könne sich niemand auf einen geregelten Fahrplan verlassen. Alle zwölf Stunden erreicht die Nordsee zwischen Festland und Insel ihren Höchststand, aber jeden neuen Tag mit 50-minütiger Abweichung. „Unser Fahrplan ist immer sehr flexibel“, so Carsten. Immerhin macht es aber der Gezeitenkalender möglich, das sechsstündige Zeitfenster für die Abfahrten von oder nach Harlesiel auf Monate im Voraus zu bestimmen.

Wir leben hier Eisenbahnfamilie
Das teils raue Nordseewetter birgt auch seine Herausforderungen für die Insel-Eisenbahner:innen. So kommt es vor, dass ab einem Hochwasserstand von einem Meter die Gleise nicht mehr befahrbar sind. Extremsituationen gab es auch schon; vor allem, wenn das Fahrwasser vereist. „Dann hilft nur noch eine Luftbrücke für die Grundversorgung“, erzählt Carsten. Sturmfluten hätten sie zudem jedes Jahr. „Das kennen wir hier nicht anders und können damit leben“. Leben können die Kollegen auch mit dem saisonal bedingten Auf und Ab der anfallenden Arbeit; Überstunden, die im Sommer entstehen, werden im Winter abgebaut. „Wir sind gut aufeinander eingestellt; es ist fast schon familiär“, so Betriebsleiter Michael Fleddermann. Anders wäre das tägliche Miteinander auf knapp acht Quadratkilometern Insel und sechs Kilometern Schmalspurgleisen kaum möglich.

Die Inselbahn hat ein Alleinstellungsmerkmal: Sie ist die Einzige, die durch den Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer verkehren darf. Die neuen Motoren der Fährschiffe sind bereits auf umweltfreundlichen Treibstoff umgestellt. Die Loks der Inselbahn werden aktuell für alternative Antriebe geprüft. Gänse, Lachmöwen, weidende Kühe und Inselgäste würden es danken. „Ich und meine Kolleg:innen auch“, sagt Carsten, bevor er wieder auf die kleine, rote Insellok steigt.