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Interview: „Das iranische Regime hat die Kontrolle über die Bevölkerung verloren“

Frau-Leben-Freiheit – mit diesem Dreiklang machten vor mehr als einem Jahr Frauen im Iran Furore. 2022 berichtete die iranische Aktivistin Monireh Baradaran der EVG-Bundesfrauenleitung über die Lage in ihrem Heimatland. Ein Jahr später haben wir erneut mit ihr über die Lage der Frauen im Iran gesprochen.   

Wie ist die aktuelle Situation für Frauen im Iran? Was hat sich seit November 2022 geändert?

Die revolutionäre Bewegung "Frau Leben Freiheit", die vor einem Jahr das ganze Land in Bewegung versetzt hatte, wurde gewaltsam niedergeschlagen. Massive Brutalität richtet sich insbesondere gegen Frauen, die in der Bewegung gegen das Regime eine Vorreiterrolle spielen. Frauenfeindliche Gesetze und Vorschriften werden verschärft. Die "Moralpolizei" hat ihre Arbeit wieder aufgenommen, und ihre Brutalität kennt keine Grenzen. Mit verschiedenen üblen Methoden wird versucht, den Hijab, der von vielen Frauen und Mädchen durch zivilen Ungehorsam nicht eingehalten wird, wieder durchzusetzen.

Das Leben ist schwieriger geworden, nicht zuletzt aufgrund einer schweren Wirtschaftskrise, die durch Misswirtschaft und Korruption noch verschärft wird. Die Inflation bereitet der Bevölkerung große Sorgen, da die Preise seit Jahresbeginn um fast 50 Prozent gestiegen sind.

Andererseits hat das Regime seine ideologische und politische Kontrolle über die Bevölkerung völlig verloren. Die revolutionäre Bewegung "Frau Leben Freiheit" hat sehr tiefe und breite Spuren hinterlassen und somit die Kluft zwischen der islamischen Regierung und der Bevölkerung, insbesondere für die jüngere Generation, vertieft. Man kann beobachten, wie die islamisch-patriarchalen Strukturen und die Kultur im Land zerbröckeln. Der Widerstand setzt sich in anderen Formen fort, durch zivilen Ungehorsam.

Und wie ist die Situation der Gewerkschaften?

Unabhängige Gewerkschaften werden unterdrückt und bedroht, ihre aktiven Mitglieder sitzen im Gefängnis. Trotzdem setzen sie ihren Kampf fort und organisieren Proteste und Streiks. Die meisten forderten höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen oder kritisierten die Korruption und Misswirtschaft der Unternehmen. Die Mehrheit der Beschäftigten hat nur befristete Verträge, und somit verlieren viele soziale Ansprüche. Die Arbeitslosigkeit, besonders bei Jugendlichen und Frauen, liegt sehr hoch, über 25%.

Im Februar 2023 schlossen sich 20 Gewerkschaften und Zivilorganisationen im Iran zusammen und veröffentlichten eine Charta mit zwölf "Mindestforderungen“, die sie als "Grundlage für den Aufbau einer neuen, modernen und humanen Gesellschaft" sehen. Sie forderten unter anderem die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Abschaffung der Todesstrafe, Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit, aber auch Arbeitsplatzsicherheit, Gehaltserhöhungen und die Freiheit, Gewerkschaften zu gründen. Zudem forderten sie Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann in allen Belangen der Gesellschaft, das Ende der Diskriminierung gegen LGBTQ und vieles mehr.

Wie können sich die Dinge im Iran ändern? Wie können wir als Gewerkschafter dabei unterstützen/helfen?

Solange das Regime in seiner aktuellen Form existiert, wird der Wille zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen sowie die Konfrontation mit der islamischen Regierung bestehen bleiben.

Was die Gewerkschaften im Iran von ihren Kollegen im Ausland erwarten, ist Unterstützung und Solidarität. Ein wichtiger erster Schritt wäre, die unabhängigen Gewerkschaftsorganisationen statt der staatlich kontrollierten in die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) aufzunehmen. Das wäre ein sichtbares Zeichen der internationalen Gewerkschaften der Solidarität mit ihren Brüdern und Schwestern im Iran.