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9. November: „Sie fahren ins Ungewisse. Keiner wusste, was auf sie zukommt“

Herbst 1989 in Deutschland - Wochen der friedlichen Revolution in der DDR bis zum Mauerfall am 9. November. Dieser jährt sich nun zum 35. Mal. Daran haben auch Eisenbahner:innen ihren Anteil und wurden in diesen Schicksalswochen mehr als andere ihrer Kolleg:innen Teil dieser Glückspassage unserer deutschen Geschichte.

In der damaligen DDR brodelte es; die Proteste gegen das Regime wurden zunehmend lauter. Parallel flüchteten DDR-Bürger:innen in die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau, um dort Asyl zu erzwingen. Sie wollten die DDR dauerhaft verlassen. Nur noch Polen und die Tschechoslowakei konnte man ohne Visum bereisen. In Berlin wurde die Botschaft der BRD wegen der Straßenproteste stark abgeschirmt.

Bereits im Sommer, am 19. August, setzte Ungarn ein Hoffnungssignal für ein politisches Umdenken. Es organisierte für drei Stunden eine als „Paneuropäisches Picknick“ getarnte Öffnung des Grenzzauns zu Österreich. Rund 700 DDR-Bürger nutzten die Gelegenheit für die spontane Flucht in den Westen. Für viele von ihnen ging es dann von Wien nach Münster. Ihre Weiterreise per Zug wurde u.a. von Peter Bahr, damals Kundenberater Personenverkehr, koordiniert.

Aus einem schnell eingerichteten „Reisezentrum“ im Erstaufnahmelager Schöppingen, nahe Münster, sollte er beraten und weiterhelfen. „Wer Verwandte im Westen hatte, sollte dorthin. Alle andere wirkten ziellos, waren aber sofort bereit sich für Nord- oder Süddeutschland zu entscheiden“, weiß Peter noch. Unglaubliche Zustände in den Tagen nach der Grenzöffnung erlebte auch Reiner Dietrich als Zugführer auf der Strecke Hannover – Oebisfelde (Grenzbahnhof). „Statt der zugelassenen 800 waren rund 3.000 Menschen im Zug.

Sie standen in den WC’s, lagen in den Kofferablage (Gepäcknetz) und belegten unser Dienstabteil“. Reiner musste sogar einmal auf der Lok mitfahren. „Es war kein Platz. Ticketkontrolle? Unmöglich.“ Währenddessen glühten hinter den Kulissen die Telefondrähte. Warschau und Prag vermittelten zwischen DDR und BRD. Am 30. September 1989 der zeitgeschichtliche Knall: zeitgleich mit Bundes-Außenminister Genscher in Prag verkündete sein Staatssekretär in Warschau die lang ersehnte Nachricht: „Heute Nacht dürfen Sie in die Bundesrepublik ausreisen“. Nur Stunden später rollten die ersten Sonderzüge mit hunderten DDR-Bürger:innen aus den beiden Botschaften in Richtung Westdeutschland.


Klaus Amberger - 1991 im Büro in der Ruschestraße 59, Reichsbahndirektion Berlin, Abteilung Infrastrukturplanung

Die Fahrt durch die Nacht

Die Züge rollten vorwiegend nachts. Bernhard Weisenseel war als Zugbegleiter dabei. Der damals 32-jährige Bundesbahner fuhr im zweiten Prager Botschaftszug von Hof nach Gießen mit. Die Ost-Regierung verlangte, dass die Züge über DDR-Gebiet in die BRD fuhren. Dafür hatten sie spezielle Listen über geeignete Lok- und Zugführer erstellt. Zudem sollte laut Ost-Behörden neben dem Lokführer ein „Lotse“ mit Streckenkenntnis mitfahren, um sicherzustellen, dass die Züge in der DDR nirgends hielten. Die Fahrdienstleiter hatten den Zügen Vorrang zu gewähren. Alle relevanten Stellwerke wurden von der DDR-Transportpolizei kontrolliert. Polizei, Nationale Volksarmee und Betriebskampfgruppen sicherten die Strecken. „Bei jeder Bahnhofsdurchfahrt streckten die ihre Hände aus den Waggonfenstern, als wollten sie die Freiheit greifen“, so Bernhard.

So ähnlich hat es auch Erich Klein erlebt, der am 9. November als Lokführer einen der Prager Botschaftszüge zwischen Bruchsal und Offenburg fuhr. Auch nach 35 Jahren ist ihm noch alles sehr präsent. „Die Menschen standen an den geöffneten Fenstern und schauten hinaus ins Ungewisse. Keiner wusste, was auf sie zukommt“.


Tränen der Freiheit
Als der erste Zug am Morgen des 1. Oktober 1989 in Hof ankam, fielen sich Anwohner:innen und Ankömmlinge vor Freude in die Arme. Bahnhofsmission, Bayerisches Rotes Kreuz und THW versorgten die erschöpften Ex-DDR-Bürger:innen. Für manche Eisenbahner:innen unvergessliche Momente. „Wir waren Teil davon“, erinnern sich damalige Kolleg:innen mit Stolz. Anderen Kolleg:innen bot sich ihren Erzählungen nach mit jedem Zug das gleiche, schöne Bild: Überall glückliche Menschen.

An anderer Stelle spürte Klaus Amberger, Betriebsingenieur Anlagen im Reichsbahnamt Berlin, „die Nervosität der Genossen“. Amberger ist heute 84 Jahre alt und feiert in diesem Jahr 70 Jahre Gewerkschaftszugehörigkeit. Er hatte am 1. Oktober Leitungsbereitschaft und sollte schnellstens für einen Zug aus Warschau mit Botschaftsflüchtlingen einen Begleiter bis zur Übergabe in Helmstedt aktivieren.

Klaus wusste, was auf dem Spiel stand und konnte mit viel Mühe einen Kollegen organisieren, damit der Zug mit den DDR-Flüchtlingen aus Warschau abfahren konnte. „Ich befand mich im Stellwerk Köpenick und sah den überfüllten Zug vorbeifahren. Viele der Insassen winkten aus den Zugfenstern ... „Auch ich hätte gerne zurückgewunken, musste mir das aber verkneifen".


Ein neues Deutschland
Dann kam der Abend des 9. November. Auf der legendären Pressekonferenz verkündete der Sprecher des DDR-Politbüros, Günter Schabowski, fast nebensächlich die „sofort, unverzügliche“ Öffnung aller Grenzübergänge für Bürger der DDR nach Berlin-West und zur BRD.

Vom 9. zum 10. November hatte auch Rudolf Mockert Dienst. Der damalige Wagenmeister in Hof hat den „Ausnahmezustand“ dieser Stunden noch vor Augen: keine Pausen; Arbeitsbelastung an der Schmerzgrenze. Mockert damals 32 Jahre alt, fasst es in einem Wort zusammen: „Wahnsinn! Im Wendetrubel hatte die Reichsbahn alle verfügbaren Personenwagen eingesetzt, die noch irgendwie fahren konnten“. Sogar Nahverkehrswagen seien in die Fernzüge eingestellt worden, um den hohen Bedarf abzudecken“. Bei den chronisch überfüllten Wagen saß die Federung auf, was einen betriebsgefährdenden Schaden darstellt. Dennoch wurden die Züge freigegeben und durften mit max. 40 km/h weiterfahren. „Alles lief sehr organisiert und diszipliniert ab, erzählt Mockert."

Turbulenter lief es hingegen in Berlin am Grenzbahnhof Friedrichstraße ab. Reichsbahner Dieter Reetz, Abteilungsleiter in der Generalvertretung Personenverkehr, erlebte die Flut der Menschen gen West-Berlin hautnah mit. Wer hier „rüber“ wollte, musste durch den Grenzübergangspavillon, direkt am Bahnhof. „Der Tränenpalast wurde praktisch geflutet“. Kolleg:innen, die dienstfrei hatten, haben für eine sichere Abfahrt der Züge gesorgt. 

Viele Eisenbahner:innen, die die Flüchtlingszüge gefahren, organisiert und/oder begleitet hatten, brachten Menschen in die Freiheit. Sie sind somit selbst Teil einer Geschichte, die uns alle bis heute bewegt. Die Kolleg:innen der Deutschen Reichsbahn, der tschechoslowakischen und der polnischen Staatsbahnen brachten zwischen dem 30. September und dem 4. Oktober 1989 rund 14.000 DDR-Bürger:innen in die Freiheit.